22. Dezember 2012
Eine Reportage von Andrea Jacob
Der zweite Teil der Dokumentation von Frau Andrea Jacob. Unter dem Titel “Unheilige Allianzen zwischen Gutachtern und Behörden” beschrieb sie den “Fall” Gustl Mollath und das staatliche Vorgehen gegen Steuerfahnder, die man kurzerhand als psychisch gestört aus ihrem Amt mobbte, als sie Steuerhinterzieher dingfest machen wollten.

Hier folgt nun eine weitere Geschichte der vorsätzlich betriebenen Entfremdung der Kinder von ihrem Vater Professor Dr. Christidis.

Der Gießener Professor Dr. Christidis wurde im Jahr 2001 von der Anklage durch die Berliner Staatsanwaltschaft wegen Aufrufs zum militärischen Ungehorsam freigesprochen. Er hatte 1999 in einer Zeitungsanzeige mit anderen Kriegsgegnern den Jugoslawienkrieg für völkerrechtswidrig erklärt und dadurch deutschen Soldaten indirekt nahegelegt, ihren illegalen Einsatz und die Bombardierung eines europäischen Landes zu verweigern. Das Berliner Kammergericht bescheinigte ihm am 16.08.2001 letztinstanzlich, dass er das Grundgesetz der BRD ver­teidigt habe.
Die zeitgleich laufende Berufung auf seine Professur konnte er noch ohne Gerichtsbeschluss antreten: Das (damals FDP-geführte) hessische Wissenschaftsministerium (HMWK) hatte ihm mitgeteilt, man könne nicht ins Beamten­verhältnis auf Lebenszeit jemanden berufen, der Regierungen so offen kritisiere. Nach Kündigung einer lukrativen Anstellung in der Industrie und Ablehnung zweier anderer Professuren in anderen Bundesländern wollte Christidis nicht schon den zweiten Prozess in seinem Leben führen und war glücklich, erfolgreiche Überzeugungsarbeit zu leisten.

In Hessen mauserte sich Prof. Christidis zu einem gerichtsbekannten Streiter; denn ab 2005 lief seine Scheidung. Die anfänglich etwa gleichen Erziehungsrechte gegenüber den beiden Söhnen schrumpften mit immer neuen Gerichtsbeschlüssen auf spärliche Begegnungen, (Zitat) „um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass beide Kinder zwischenzeitlich sportliche Aktivitäten aufgenommen haben“: Fußball-Trainer sollten nach und nach den Vater ersetzen.

Im Jahr 2009 zeigte Christidis dann offen Verständnisprobleme mit dem Umgang des Familiengerichts in einer weiteren Sorge­rechts­­ange­­legenheit: Trotz gemeinsamen Sorge­rechts hatte seine geschiedene Frau in seiner Abwe­senheit die beiden Söhne beschneiden lassen. Als Begründung führte sie an, dies sei (Zitat) „später schöner für die Frauen“. Während der einzigen zwei Wochen, die der Vater in diesem Jahr verreist und nur telefonisch erreichbar war, zerrte sie die Kinder zum Urologen und gab an, über die alleinige elterliche Sorge zu verfügen.

Eine Strafanzeige fruchtete nicht: Die Staats­anwaltschaft Gießen erachtete die Falsch­beurkundungen der Mutter als Versehen. Die von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/­Main eingesetzte Staatsanwältin beurteilte sogar die Genitalverstümmelung der Kinder als „Schönheitsideal“ und deshalb als kindeswohldienlich.

Der Professor zog vor das Familiengericht: Wenn Kinder von der eigenen Mutter im Namen eines von ihr so verstandenen Frauenrechts genital verstümmelt werden, ist ein gemeinsames Sorgerecht nicht mehr praktizierbar.

Die zuständige Gießener Richterin Keßler-Bechtold teilte diese Auffassung – und übertrug das alleinige Sorgerecht auf die Kindesmutter. Um keine Fehler zu machen, hatte die Richterin zuvor ein familien­psycholo­gisches Gutachten in Auftrag gegeben. Die beauftragte Psychologin kam, sah – und verschwand. Als die dreimonatige Frist für das Gutachten nahezu verdoppelt war, erklärte der Professor die Sachverständige für befangen: Die Verstümmelung der Kinder lag inzwischen fast ein Jahr zurück, und in der Zwischenzeit hatte er die Kinder nicht einmal fragen können, ob bzw. welcher Terror der Gewaltmaßnahme vorausgegangen war.

Professor Christidis unternahm zunächst nichts gegen das ausgebliebene Gutachten, er war mit dem Entzug seines Sorgerechts beschäftigt. Als er die Rechnung über 9.376,75 EUR begleichen sollte, wollte er wissen, wofür. Daraufhin verlangte die Richterin von ihm eine verbindliche Erklärung, dass das Gutachten überhaupt verfasst werden solle. Sie bekam sie.

Eineinviertel Jahre nach Auftragserteilung und ein Dreivierteljahr nach Entzug des Sorge­rechts erblickte das Gutachten erstmalig das Licht der Welt im Juni 2011. Auf der Grundlage der erfolgten Untersuchungen mit den Kindern wurde darin dem Professor eine paranoid querulatorische Persönlichkeitsstörung bescheinigt: eine psychiatrische Diagnose, zu der die Psychologin weder befugt, noch befähigt ist. Um sämtlichen Missverständnissen vorzu­beugen, hatte zudem die Sachverständige ihre „Erkenntnisse“ aus der Untersuchung der verstümmelten Kinder auch auf die Dienstfähigkeit des Hochschullehrers bezogen, indem sie dem Ferndiagnostizierten die Ressourcen für (Zitat) „ein (zumindest durchschnittliches) berufliches Engagement“ in Frage stellte.

Sofort nach Erhalt seiner „Diagnose“ ließ sich Professor Christidis von einem namhaften Professor für Psychiatrie und Gerichtsgutachter untersuchen; dieser bestätigte ihm eine gesunde Psyche. Darüber hinaus ließ Christidis zumindest die gutach­ter­liche Tätigkeit der vom Gießener Familiengericht gern und häufig beauftragten Gutach­terin von drei renommierten Professoren für Psychologie prüfen. Sie alle kamen unabhängig voneinander zum Ergebnis, das Gutachten sei nicht verwertbar. Ab da brachte er kein Verständ­nis für die Verfah­rens­­weise der Sachverständigen, des Gerichts und der Staatsanwaltschaft auf. Er verklagte die Gutachterin auf Unterlassung.

Das öffentliche Verfahren Prof. Christidis ./. Dipl.-Psych. Leopold-Linke vor dem Landgericht Gießen stieß auf öffentliches Interesse. Vor allem führte es aber dazu, dass mindestens vier weitere Opfer von Gefälligkeitsgutachten derselben Richterin und derselben Gutachterin sich zu erkennen gaben und Mut zu eigenen Klagen schöpften. Bei der Verhandlung am 15.03.2012 widerrief die Gutachterin ihr Gutachten und verpflichtete sich freiwillig zur Unterlassung der dort getroffenen Aussagen. Ohne jegliche fachliche Auseinandersetzung vernichtete sie damit das, was sie zuvor als Resultat harter, gewissenhafter Arbeit (auch im Interesse der hessischen Hochschulwelt) hingestellt hatte.

Über den Prozess wurde lokal
berichtet: http://www.giessener-zeitung.de/giessen/beitrag/63361/vor-gericht-gibt-es-in-giessen-eine-falschgutachten-industrie/

Die zugrunde liegende rechtliche Konstruktion scheint, wasserdicht zu sein:

Richterin Keßler-Bechtold hat mit dem in Auftrag gegebenen Gutachten ihre Gewissen­haftigkeit und ihre Sensibilität gegenüber dem Leid der Kinder gezeigt. Nachdem der Kindes­vater gegenüber der Gutachterin die Besorgnis der Befangenheit zum Ausdruck brachte, weil sie auch zwei Monate nach Ablauf der Dreimonatsfrist nichts über die Lebensumstände der Kinder schrieb, die sie mündlich z.T. als (Zitat) „schlimm“ bezeichnet hatte, nahm sich die Richterin das Recht, sich dennoch für der Psychologie mächtig zu erklären und von ihrem Schreibtisch aus die Kinder bei der Kindesmutter für gut aufgehoben zu erklären; sie darf das. Die auf Lebenszeit „demokratisch legitimierte“ Richterin könnte sich sogar im Bedarfsfall (falls sie sich vor ihren Kollegen rechtfertigen muss) auf das Gefälligkeitsgutachten berufen.

Die Gutachterin braucht sich nichts vorwerfen zu lassen: Immerhin ist kein Gerichts­beschluss auf der Grundlage ihres Gutachtens gefasst worden. Die urteilenden Landrichter und Oberlandesrichter interpretierten zudem ihren Widerruf als Eingeständnis eines Fehlers (was die Psychologin nie zugab). Für einen Fehler können sie, so die Richter, nicht die Arbeit der Sachverständigen unhonoriert lassen: Die fast 10.000 EUR seien zu Recht vorgestreckt und Christidis nachträglich aufgebürdet worden – ja umgekehrt: Der bereitwillige Widerruf bewies, dass es die Psychologin gar nicht so ernst gemeint hatte, ein Prozess wäre nicht notwendig gewesen: Der Professor hat auch die Gerichts- und die Anwaltskosten beider Seiten zu tragen.

Prinzipiell hätte Christidis das Gutachten hinnehmen und sich frühpensionieren lassen können, um fortan, neben seiner Pension, nur noch private, lukrative Projekte anzunehmen, wozu im Berufsalltag die Zeit fehlt. Durch den Widerruf würde er aber damit nur seine Pension vorzeitig erschleichen: Sich auf das widerrufene Gutachten zu berufen, wäre Betrug – im Gegensatz zum Verfassen des Gefälligkeitswerks.

Diese genannten Fälle lassen zumindest den Eindruck von organisierten Seilschaften entstehen. Das Mittel der Psychiatrisierung wird also auch bei uns in Deutschland angewandt. Und sogar dann, wenn es um das Schicksal und das Zusammenleben von Eltern und Kind geht. Die scheinbare Unangreifbarkeit von Ämtern tut ihr Übriges um das Glück und die Familie zu zerstören.

Es liegt die Frage nahe, durch welche Sozialisierung werden Richter und Amtspersonen so geformt, dass sie solche Methoden anwenden?

In der dritten Folge geht Frau Andrea Jacob auf das Wirken von Justiz und Amt, insbesondere das Jugendamt ein.

Teil 1 der Artikelserie:
http://tv-orange.de/2012/12/hat-deutschland-aus-seiner-unruehmlichen-vergangenheit-nichts-gelernt/

Teil 2 der Artikelserie: http://tv-orange.de/2012/12/gustl-mollath-ist-kein-einzelfall-die-erlebnisse-von-professor-christidis/

Teil 3 der Artikelserie: http://tv-orange.de/2012/12/ihr-kinderlein-kommet-und-die-sarkastische-wirklichkeit-der-praxis-von-jugendamt-und-justiz